Soziale Dimension der Pflege-Lücke

Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform

Soziale Dimension der Pflege-Lücke

Pflegebedürftigkeit bedeute Armut, wird häufig behauptet. So pauschal stimmt das nicht. Seit Jahren nimmt die Zahl derjenigen ab, die auf "Hilfe zur Pflege" angewiesen sind. Die Mehrheit der Rentnerhaushalte in Deutschland ist finanziell sogar gut aufgestellt, um ihre Pflege zu bezahlen.

 

Die „Pflegelücke“

Die sogenannte „Pflegelücke“ bezeichnet den durchschnittlichen Eigenanteil, den Pflegebedürftige bzw. ihre Angehörigen bei Unterbringung in einem Heim selbst tragen müssen. Laut Pflegedatenbank des PKV-Verbandes (Stand 01.01.2024) liegt der durchschnittliche pflegebedingte Eigenanteil bei 1.431 Euro. Zu den pflegebedingten Eigenanteilen addieren sich für den Pflegeheimbewohner im Durchschnitt noch 468 Euro für Investitionskosten, 544 Euro für die Unterkunft und 364 Euro für die Verpflegung. Der Eigenanteil, der von Pflegebedürftigen insgesamt zu zahlen ist, liegt damit aktuell bei durchschnittlich 2.806 Euro.
Die Auswertung verdeutlicht große regionale Unterschiede zwischen den Bundesländern, aber auch innerhalb der Bundesländer. Die höchsten Eigenanteile sind in Baden-Württemberg (3.229 Euro) und im Saarland (3.095 Euro), die geringsten Eigenanteile in Sachsen-Anhalt (2.251 Euro) und in Thüringen (2.415 Euro) zu zahlen. Eine noch tiefere Analyse zum Eigenanteil in der stationären Versorgung hat 2020 das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP) vorgenommen: Eine ländliche Versorgung ist demnach durchschnittlich günstiger als die Versorgung in der Stadt, private Einrichtungen verlangen im Schnitt niedrigere Eigenanteile als kommunale und gemeinnützige Träger.

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Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung hat die damalige Große Koalition im Herbst 2021 die Pflegebedürftigen von steigenden Zuzahlungen entlastet. Die im Gesetz beschlossenen Zuschläge wurden inzwischen von der Ampel-Koalition angehoben. Derzeit erhalten Pflegebedürftige von der Pflegeversicherung folgende Zuschläge zum pflegebedingten Eigenanteil: Im ersten Jahr 15 Prozent des pflegebedingten Eigenanteils, im zweiten Jahr 30 Prozent, im dritten Jahr 50 Prozent und danach 75 Prozent. Die beschlossenen Entlastungen bedeuten nicht nur eine deutliche Leistungserweiterung der Pflegeversicherung, sie ist auch verteilungspolitisch nicht unproblematisch.

Zur Begrenzung der Eigenanteile hatte das Bundesgesundheitsministerium bereits im November 2020 ein Eckpunktepapier vorgelegt. Auf dieser Grundlage haben Prof. Stefan Fetzer und Prof. Christian Hagist die Wirkungen analysiert und kommen zu folgendem Ergebnis: Eine Deckelung des Eigenanteils ist verteilungspolitisch fragwürdig. Bei einer solchen Maßnahme würde eine Umverteilung vom Mittelstand ohne große Vermögen (wie er vornehmlich in strukturschwächeren Regionen, wie z. B. Thüringen zu finden ist) hin zum Mittelstand mit mehr Vermögen (wie z. B. in Baden-Württemberg) vorgenommen. So profitieren insbesondere Haushalte, die andernfalls ihr Eigenheim oder sonstiges Vermögen veräußert oder beliehen hätten. Verteilungspolitisch fragwürdig sei, dass sich auch Pflegebedürftige, deren Renten und sonstige Einkünfte bisher schon ausreichten, um ein Pflegeheim mit einem höheren einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE) zu bezahlen, zu den Gewinnenden zählen können. Von beiden Gruppen gibt es in Baden-Württemberg (und anderen west- und süddeutschen Bundesländern) mehr als in Thüringen.

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Hilfe zur Pflege

Es ist eine Legende, dass die Eigenanteile an den Pflegekosten immer mehr Sozialfälle produzieren würden. Vor Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung bezogen 80 Prozent der Pflegebedürftigen in Einrichtungen Sozialhilfe. Die gesetzliche Pflegeversicherung hat dieses zum Zeitpunkt ihrer Einführung viel beklagte Armutsrisiko auf gut ein Drittel der Heimbewohner reduziert und seitdem konstant gehalten bzw. weiter gesenkt.
Der Anteil der Empfänger von Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen ist seit zwanzig Jahren relativ konstant: Im Jahre 2000 bezogen noch 34,1 Prozent der vollstationär versorgten Pflegebedürftigen Sozialhilfeleistungen. 2021 ist dieser Anteil auf 29,3 Prozent gesunken. Grund dafür waren nicht zuletzt auch die Leistungsausweitungen durch Renten- und Pflegereformen zugunsten der Älteren. Kurzum: Die Gesetzliche Pflegeversicherung erfüllt bis heute ihren Gründungsauftrag.

 
 
 

Eine Deckelung der Eigenanteile hat viele Schwächen

Prof. Heinz Rothgang hat in einer Studie im Auftrag der DAK-Gesundheit die Eckpunkte des Bundesgesundheitsministeriums zur damals geplanten Pflegereform vom November 2020 auf ihre Finanzwirkungen hin untersucht. Kernpunkt der Studie ist dabei die Frage, wie sich eine Deckelung der Eigenanteile auf 700 Euro auf den Anteil der Sozialhilfeempfänger in Pflegeheimen auswirken würde.

Laut Modellrechnungen würden 80 Prozent der Heimbewohner von der Deckelung der Eigenanteile profitieren, perspektivisch sogar 90 Prozent, wenn die Löhne der Pflegekräfte wie erwartet zeitnah weiter steigen. Zu den Begünstigten zählen somit auch die Pflegebedürftigen, die dank ihrer Vermögensverhältnisse auch bei einem starken Anstieg der Pflegekosten und mehr als drei Jahren Heimaufenthalt nicht auf Sozialhilfe angewiesen wären. Auf sie entfallen mehr als die Hälfte der Reformkosten. Der Anteil der auf Sozialhilfe angewiesenen Heimbewohner würde indes von 28 auf rund 25 Prozent sinken. Dies würde die Sozialämter – und damit die Länderhaushalte – um 2 Milliarden Euro entlasten.

 

Unser Kommentar

Dass Pflegeheimbewohner durch eine Deckelung der Eigenanteile weniger auf eigene Einkommen und Vermögen zurückgreifen müssen, ist ein erwartbares Ergebnis. Die wirklich drängenden Probleme, die sich aus dieser Reformidee ergeben, bleiben in der Studie jedoch außen vor. Insbesondere die Frage der Verteilung: Die Studie bestätigt im Grunde, dass ein „Sockel-Spitze-Tausch“ wie eine Gießkanne wirkt und nicht zielgerichtet ist. Vielmehr wird mit einer Deckelung die Mittelschicht entlastet und die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Pflege nur zu einem geringen Anteil reduziert. Da ein Großteil der Pflegeheimkosten auch weiterhin selbst getragen werden muss (Unterkunft, Verpflegung und alle pflegebedingten Kosten, die über den 700-Euro-Deckel hinausgehen), wird der Großteil der Pflegebedürftigen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, diese Unterstützung auch künftig benötigen.

Kurzum: Die Deckelung der Eigenanteile hätte eine diffuse Wirkung, aber sie ist überhaupt kein zielsicheres Instrument zur Vermeidung pflegebedingter Altersarmut. Im Gegenteil: Sie wirft neben der Verteilungswirkung weitere Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf, z. B. warum ein Pflegebedürftiger sein Vermögen nicht für seine Pflege einsetzen soll und stattdessen andere, die häufig kein Vermögen haben, dafür arbeiten müssen.

Es ist aber ein Verdienst der Studie, die Verteilungswirkungen eines Sockel-Spitze-Tauschs so transparent zu machen – dies gilt auch für die absurde Entlastung der Länder, die sich weiter weitgehend ihrer Finanzverantwortung für die Investitionskosten in der Pflege entziehen und von der Reform auch noch profitieren würden.

 

Erbenschutz ist keine Aufgabe des Staates

Eine Begrenzung des pflegebedingten Eigenanteils (sog. „Sockel-Spitze-Tausch“) oder eine Vollversicherung in der Pflege werden nicht die Ziele erreichen, mit denen sie begründet werden. Sie werden weder zu mehr Gerechtigkeit führen noch sozial Schwächere entlasten. Zu diesem Ergebnis kommt Georg Cremer, der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, in seinem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2021. Vielmehr würden die Armen völlig leer ausgehen und für die Menschen, die Hilfe zur Pflege bekommen, ändere sich gar nichts - obwohl die Forderung nach einer Pflegevollversicherung von Sozialverbänden mit deren Interessen begründet wird.


Der Sozialexperte wirft die Frage auf, was falsch daran wäre, würden vermögende Menschen ihr Erspartes auch dafür einsetzen, im Bedarfsfall ihre eigene Pflege mitzufinanzieren. Sie hätten schließlich die finanzielle Möglichkeit gehabt, durch eine private Zusatzversicherung den Rückgriff auf ihr Vermögen im Pflegefall zu vermeiden. Erbenschutz, so Cremers Fazit, sei keine Aufgabe des Sozialstaats. Was dagegen wichtig wäre, ist laut Cremer eine Debatte zu Prioritäten und zur Ordnung des Pflegemarktes. „Gute Pflege gelingt nur mit Pflegekräften, die fair bezahlt werden und Arbeitsbedingungen haben, die ihnen ermöglichen, gut zu pflegen. Das sollte ebenso im Blick stehen wie die Autonomie der Pflegebedürftigen und eine weitere Stärkung der ambulanten Versorgung. Erbenschutz ist dagegen keine vordringliche Aufgabe.“

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Unspezifische Vorsorge – reicht es für die Pflege?

Dass die Pflegeversicherung neu organisiert werden muss, steht vor allem wegen der absehbaren Belastung der jüngeren Generationen außer Frage. Politisch jedoch wird der Reformbedarf meist mit einer Überforderung der heute bereits Älteren begründet: Die aktuell Pflegebedürftigen und die pflegenahen Jahrgänge tappten in die „Armutsfalle“, heißt es da häufig.

Dabei ist es um die Finanzen der heute älteren Generation vergleichsweise gut bestellt. So hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) ermittelt, inwiefern die Rentnerhaushalte ihre Eigenanteile für längere Aufenthalte im Pflegeheim selbst bezahlen können. Das Ergebnis:

  • 71,9 Prozent der Rentnerhaushalte (mit Haushaltsvorstand über 65 Jahren) verfügen über ausreichend Einkommen und Vermögen, um einen einjährigen Pflegeheimaufenthalt zu finanzieren.
  • 69,5 Prozent hätten genug Mittel, um einen dreijährigen Pflegeheimaufenthalt zu finanzieren.
  • 67,0 Prozent könnten sich einen bis zu fünfjährigen Aufenthalt leisten.

Für die allermeisten Rentnerhaushalte besteht mithin kein Armutsrisiko, stellt das IW Köln fest. Die Ökonomen schlussfolgern: Bei einer Deckelung der Eigenanteile im Pflegeheim sei die Kritik nicht von der Hand zu weisen, dies sei für einen Teil der Bevölkerung ein „Erbenschutzprogramm“.

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Entwicklung der Lebensverhältnisse im Alter

Unter Verteilungsgesichtspunkten ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Einkommens- und Vermögenssituation der Rentnerhaushalte in den letzten Jahren nicht verschlechtert hat: Laut Studien des IW Köln fielen seit Mitte der 1980er Jahre überdurchschnittliche Realeinkommenssteigerungen vor allem bei den über 55-Jährigen an. Die Generationen der 65- bis 74-Jährigen besitzen zudem im Vergleich zu 25-Jährigen nahezu das 30fache an Vermögen und mehr als das Doppelte als die 35- bis 44-Jährigen. Das Armutsrisiko der über 65-Jährigen liegt derzeit deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung.

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