BewertungKoalitionsvertrag2022

Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform

Die Illusion vom "Weiter so"

Bewertung der pflegepolitischen Agenda des Koalitionsvertrages von SPD, Grünen und FDP

Der pflegepolitische Teil des Koalitionsvertrages, auf den sich Ende vergangenen Jahres SPD, Grüne und FDP unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ geeinigt haben, ist von allen Kapiteln der wohl am wenigsten innovative und schreibt weitgehend die Agenda der vergangenen zwei Legislaturperioden fort: von der Begrenzung der Eigenanteile bis zur Beschleunigung der Personalbemessungsverfahren. Er dürfte angesichts ungeklärter Finanzierungsfragen zugleich das Kapitel mit der kürzesten Halbwertszeit sein und relativ schnell Makulatur werden. Darin kann zugleich eine Chance für die Koalition liegen, wenn sie ihre pflegepolitische Agenda neu sortiert und sich den beiden zentralen Zukunftsfragen stellt, die unserer alternden Gesellschaft in den kommenden Jahren bevorstehen:

  1. Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit durch ausreichende personelle Ressourcen: Die Zahl der Pflegebedürftigen kann schon bis 2030 von heute 4,1 auf dann 6 Millionen steigen – also bevor anschließend die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in das besonders pflegebedürftige Alter kommen. Wer sie pflegen wird, ist ungewiss. Denn die für diesen Versorgungsbedarf nötige Zahl professioneller Pflege- und Betreuungskräfte sowie pflegender Angehöriger wird infolge des demografischen Wandels nicht zur Verfügung stehen; auch die Akquise internationaler Fachkräfte wird diese absehbare Lücke nicht schließen können. Der pflegerische Ressourcenmangel mag heute schon beklagt werden. Ohne die richtigen Maßnahmen wird in zehn Jahren aber die Versorgungssicherheit flächendeckend auf dem Spiel stehen und damit das gesamte System.
  2. Wachsendes strukturelles Defizit in der Sozialen Pflegeversicherung: Wenn zukünftig immer mehr Leistungsempfängern immer weniger erwerbstätige Beitragszahler gegenüberstehen, stößt das Umlageverfahren an Grenzen: Entweder steigen die Beitragssätze und Steuerzuschüsse – zu Lasten der jüngeren Generation und ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Oder die Politik begrenzt diese Entwicklung – zu Lasten der Pflege und der Pflegebedürftigen. Es bedarf einer strukturellen Finanzreform der Sozialen Pflegeversicherung, wenn diese dem strukturellen Defizit ihrer Finanzierung entgehen soll.  

Die Pflegepolitik der Ampelkoalition wird sich diesen beiden wichtigsten Herausforderungen spätestens nach Abklingen der aktuellen Corona-Welle stellen müssen, wenn nicht erneut wertvolle Zeit verspielt werden soll. Die Zukunftssicherung der Pflege ist von konstitutiver Bedeutung für die Zukunft unserer alternden Gesellschaft und hat auch volkswirtschaftliche Implikationen: Ohne eine gut aufgestellte pflegerische Versorgungsstruktur werden in der deutschen Wirtschaft dringend benötigte Fachkräfte dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend zur Verfügung stehen können. Und wenn keine Pflege- und Betreuungskräfte zur Verfügung stehen, können auch keine Leistungen in Anspruch genommen werden. Es besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Pflegeversicherung schwindet. Die Lücke an pflegerischen Ressourcen wird auch der heute größte Pflegedienst der Nation, die Familie, künftig nicht schließen können. Im Gegenteil: Änderungen von Familienstrukturen und Erwerbsverhalten – insbesondere erhöhte Mobilitätserfordernisse und wachsende Erwerbsarbeit von Frauen – werden auch die Pflege im privaten Bereich zunehmend vor Herausforderungen stellen.


Prioritäten für die Neuordnung der pflegepolitischen Agenda:

  • Finanzierungsbasis nachhaltig sichern: die Begrenzung der Eigenanteile, sei es durch Beibehaltung der von der Großen Koalition geerbten Zuschussregelung oder in einer erweiterten Form, ist im Rahmen der Umlagefinanzierung eine Erhöhung der impliziten Verschuldung zu Lasten der Generationengerechtigkeit. Dasselbe gilt finanzierungssystematisch auch für die Dynamisierung des Pflegegeldes und es gilt für die Angleichung der Löhne im Bereich der Kranken- und Altenpflege, die bei einer gleichzeitigen Begrenzung der Eigenanteile zu Lasten der Sozialen Pflegeversicherung ginge und nicht nachhaltig finanziert wäre. Daher ist eine ergänzende, generationengerechte Finanzierung im Kapitaldeckungsverfahren unabdingbar.
  • Keine weiteren Eingriffe in die Lohnfindung: Ab dem 1. September 2022 gilt eine faktische Tarifpflicht in der Altenpflege. Das Prinzip der Freiwilligkeit in der Tarifautonomie wird damit aufgegeben, Marktwirtschaft und unternehmerische Freiheit in der Pflege geopfert. Dabei gibt es keinen Grund für solche Übergriffe in die Lohnfindung: Die Pflegekommission hat zum wiederholten Male bewiesen, dass sie für die Pflegenden zu guten und branchenrepräsentativen Ergebnissen kommt. Die Zahl der Beschäftigten in der ambulanten und stationären Pflege ist seit 2009 um 40 Prozent gestiegen. Destatis belegt auch, dass die Löhne sich gut entwickelt haben: So stiegen die Bruttomonatsverdienste von Fachkräften in Altenheimen seit 2010 um 32,8 Prozent und von Fachkräften in Pflegeheimen sogar um 38,6 Prozent. Dies ist ein deutlich stärkerer Anstieg als in der Gesamtwirtschaft (Produzierendes Gewerbe und Dienstleistungen) mit nur 21,2 Prozent. Für einen weiteren Eingriff in die regionale Lohnfindung besteht kein Anlass. Der Gesetzgeber sollte stattdessen Anreize für Investitionen in den dringend notwendigen Ausbau der pflegerischen Infrastruktur setzen.
  • Notwendige Strukturreformen angehen statt Beitragssatz anheben: Durch die im Koalitionsvertrag vorgesehene „moderate“ Anhebung des Beitragssatzes zur SPV droht eine Überschreitung der wirtschaftspolitisch bedeutsamen Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent. Dazu darf es nicht kommen, denn mit einer Beitragssatzanhebung würde der erhebliche strukturelle Reformbedarf weiter verschleppt und sogar gesteigert werden.
  • Eigenvorsorge stärken statt falsche Erwartungen an die Finanzierbarkeit nähren: Der unklare Prüfauftrag an eine Expertenkommission, die „soziale Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen“, läuft Gefahr, weitere falsche Erwartungen an die Finanzierbarkeit von Leistungsausweitungen im Umlageverfahren zu nähren. Begrüßenswert ist allein die Vorgabe, dass die Vorschläge auch „generationengerecht“ sein sollen. Der Auftrag bleibt aber diffus. Das Gebot der Stunde ist es, die jüngeren Generationen auf mehr Eigenvorsorge vorzubereiten.
  • Grundsatz „ambulant vor stationär“ konsequent umsetzen: Die pflegepolitische Agenda der Ampel muss viel stärker die ambulante Pflege, aber auch die Flexibilisierung des Leistungsrechts in den Blick nehmen. Ein einfaches und gerechtes Leistungswesen in der Pflegeversicherung bedeutet größere Autonomie für Pflegebedürftige bei der Planung der Pflege und Betreuung. Neben den ambulanten Pflegediensten müssen auch die informell Pflegenden gestärkt werden, die die Hauptlast der Pflege tragen. In der Ausgestaltung der Pflegestrukturen konzentriert sich der Koalitionsvertrag zu stark auf die starren stationären Pflegeangebote, die dessen ungeachtet ebenfalls flexibler gestaltet werden müssen.

Last but not least gibt es auch Lobenswertes im Pflegekapitel:

  • Bindung der Steuerzuschüsse zur Pflegeversicherung an den Sachbezug versicherungsfremder Leistungen: Diese definitorische Bindung, hier vor allem der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, ist richtig. Sie ist eine notwendige Korrektur der in der vergangenen Legislaturperiode eingeführten pauschalen Steuerfinanzierung. Dieser de-facto-Einstieg in die Finanzierung von Leistungsausweitungen aus dem Bundeshaushalt muss rückgängig gemacht werden, weil er nur kurzfristig eine Illusion von Finanzierungssicherheit schafft, notwendige Strukturreformen aber zugleich verschleppt, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gefährdet, den Bundeshaushalt „bewegungsunfähig“ macht und die Pflege in Zielkonflikte mit Staatszielen wie Verkehrs- und digitaler Infrastruktur, Klimawandel sowie innere und äußere Sicherheit bringt. Bei dieser ordnungspolitisch gebotenen Korrektur müssen freilich nicht nur die Beitragszahler der Sozialen Pflegeversicherung, sondern auch diejenigen der Privaten Pflegepflichtversicherung von der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen befreit werden.
  • Der „Leitgedanke von Vorsorge und Prävention“: Dies gilt gerade für die Pflege. Ohne eine systematische Verankerung von Prävention und Gesundheitsförderung in der Pflege setzen wir die ohnehin knappen Ressourcen aufs Spiel, anstatt sie zu stärken: die der Pflegenden wie der Pflegebedürftigen. Was im Koalitionsvertrag aber noch fehlt und in dieser Legislaturperiode unbedingt auf den Weg gebracht werden muss, ist eine schlüssige Strategie, wie wir mit Prävention in unserer Gesellschaft des immer längeren Lebens die Zeiten der Pflegebedürftigkeit deutlich reduzieren können. Das wäre ein wichtiger Beitrag, damit Pflege unter den Bedingungen des demografischen Wandels machbar wie finanzierbar bleibt.

 

 
 
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