Soziale Dimension der Pflegelücke
Pflegebedürftigkeit bedeute Armut, wird häufig behauptet. So pauschal stimmt das nicht. Seit Jahren ist die Zahl derjenigen, die auf „Hilfe zur Pflege“ angewiesen sind, stabil. Die Mehrheit der Rentnerhaushalte in Deutschland ist finanziell sogar gut aufgestellt, um ihre Pflege zu bezahlen.
Die „Pflegelücke“
Die sogenannte „Pflegelücke“ bezeichnet den durchschnittlichen Eigenanteil, den Pflegebedürftige bzw. ihre Angehörigen bei Unterbringung in einem Heim selbst tragen müssen. Laut Pflegedatenbank des PKV-Verbandes liegt der durchschnittliche pflegebedingte Eigenanteil bei 1.764 Euro (Stand 1.1.2025). Zu den pflegebedingten Eigenanteilen addieren sich für den Pflegeheimbewohner im Durchschnitt noch 480 Euro für Investitionskosten, 595 Euro für die Unterkunft und 392 Euro für die Verpflegung. Der Eigenanteil, der von Pflegebedürftigen insgesamt zu zahlen ist, liegt damit aktuell bei durchschnittlich 3.230 Euro pro Monat.
Die Höhe der Belastung durch den Eigenanteil unterscheidet sich je nach Region. Die höchsten Eigenanteile sind im Saarland (3.603 Euro) und in Baden-Württemberg (3.570 Euro), die geringsten Eigenanteile in Sachsen-Anhalt (2.665 Euro) und in Sachsen (2.799 Euro) zu zahlen. Eine noch tiefere Analyse zum Eigenanteil in der stationären Versorgung hat 2020 das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP) vorgenommen: Eine ländliche Versorgung ist demnach durchschnittlich günstiger als die Versorgung in der Stadt, private Einrichtungen verlangen im Schnitt niedrigere Eigenanteile als kommunale und gemeinnützige Träger.
Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung hat die damalige Große Koalition im Herbst 2021 die Pflegebedürftigen von steigenden Zuzahlungen entlastet. Die im Gesetz beschlossenen Zuschläge nach § 43c SGB XI wurden von der nachfolgenden Ampel-Koalition zum 1. Januar 2024 angehoben. Derzeit erhalten Pflegebedürftige von der Pflegeversicherung folgende Zuschläge zum pflegebedingten Eigenanteil: Im ersten Jahr 15 Prozent des pflegebedingten Eigenanteils, im zweiten Jahr 30 Prozent, im dritten Jahr 50 Prozent und danach 75 Prozent. Die beschlossenen Entlastungen bedeuten nicht nur eine deutliche Leistungserweiterung der Pflegeversicherung, sie sind auch verteilungspolitisch problematisch.
Auch eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) beurteilt die Einführung des Leistungszuschlags nach § 43c SGB XI kritisch, weil er für eine pauschale Entlastung der Haushalte mit einer stationär pflegebedürftigen Person sorgt, ohne deren Finanzierungspotenziale zu berücksichtigen. So heißt es in der Studie: „Das Instrument wirkt wenig treffsicher, provoziert deshalb einen hohen fiskalischen Aufwand und erhöht damit die Finanzierungserfordernisse in der SPV. Aus ökonomischer Sicht muss der Leistungszuschlag daher insgesamt sowohl als ineffektives als auch ineffizientes Umverteilungsinstrument bewertet werden. Anders als bei der steuerfinanzierten Hilfe zur Pflege wird in der Folge die Solidargemeinschaft aller Beitragszahler mit steigenden Aufwendungen belastet, ohne die Einkommens- und Vermögenssituation der Pflegebedürftigen zu berücksichtigen.“
Zur Begrenzung der Eigenanteile hatte das Bundesgesundheitsministerium im November 2020 ein Eckpunktepapier vorgelegt. Auf dieser Grundlage haben Prof. Stefan Fetzer und Prof. Christian Hagist die Wirkungen analysiert und kamen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass eine Deckelung des Eigenanteils verteilungspolitisch fragwürdig ist. Bei einer solchen Maßnahme würde eine Umverteilung vom Mittelstand ohne große Vermögen (wie er vornehmlich in strukturschwächeren Regionen, wie z. B. Sachsen-Anhalt zu finden ist) hin zum Mittelstand mit mehr Vermögen (wie z. B. in Baden-Württemberg) vorgenommen. So profitierten insbesondere Haushalte, die andernfalls ihr Eigenheim oder sonstiges Vermögen veräußert oder beliehen hätten. Verteilungspolitisch fragwürdig sei, dass sich auch Pflegebedürftige, deren Renten und sonstige Einkünfte bisher schon ausreichten, um ein Pflegeheim mit einem höheren einrichtungseinheitliche Eigenanteil zu bezahlen, zu den Gewinnenden zählen können. Von beiden Gruppen gibt es in Baden-Württemberg (und anderen west- und süddeutschen Bundesländern) mehr als in Sachsen-Anhalt.
Hilfe zur Pflege
Es ist eine Legende, dass die Eigenanteile an den Pflegekosten immer mehr Sozialfälle produzieren würden. Vor Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung bezogen 80 Prozent der Pflegebedürftigen in Einrichtungen Sozialhilfe. Die gesetzliche Pflegeversicherung hat dieses zum Zeitpunkt ihrer Einführung viel beklagte Armutsrisiko auf gut ein Drittel der Heimbewohner reduziert und seitdem konstant gehalten bzw. weiter gesenkt.
Der Anteil der Empfänger von Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen ist seit zwanzig Jahren relativ konstant: Im Jahre 2000 bezogen noch 33,4 Prozent der vollstationär versorgten Pflegebedürftigen Sozialhilfeleistungen. 2023 ist dieser Anteil auf 26,9 Prozent gesunken. Grund dafür waren nicht zuletzt auch die Leistungsausweitungen durch Renten- und Pflegereformen zugunsten der Älteren. Kurzum: Die gesetzliche Pflegeversicherung erfüllt bis heute ihren Gründungsauftrag.
Eine Deckelung der Eigenanteile hat viele Schwächen
Da die Eigenanteile im Pflegefall immer weiter steigen, werden immer wieder Stimmen laut, Pflegeheimbewohner durch eine Deckelung der Eigenanteile zu entlasten – statt durch die aktuellen Zuschläge nach § 43c SGB XI. Neue Berechnungen zeigen, dass eine solche Obergrenze gravierende Kosten verursachen würde.
Eine Obergrenze bei den pflegebedingten Eigenanteilen von 700 Euro pro Monat hätte schon im ersten Jahr 2024 zu zusätzlichen Kosten von 8,1 Milliarden Euro geführt, zeigt eine Kostenschätzung des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung (WIP). Getrieben durch den demografischen Wandel würden die jährlichen Kosten dann auf 15,2 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigen. Insgesamt müssten die Beitragszahler im Zeitraum bis 2030 rund 80 Milliarden Euro zusätzlich tragen. Selbst bei einer geringeren Entlastung durch eine Obergrenze von 1.000 Euro pro Monat würden die zusätzlichen Kosten bis 2030 auf insgesamt 61,5 Milliarden Euro anwachsen.
Erbenschutz ist keine Aufgabe des Staates
Eine Begrenzung des pflegebedingten Eigenanteils (sog. „Sockel-Spitze-Tausch“) oder eine Vollversicherung in der Pflege werden nicht die Ziele erreichen, mit denen sie begründet werden. Sie werden weder zu mehr Gerechtigkeit führen noch sozial Schwächere entlasten. Zu diesem Ergebnis kommt Georg Cremer, der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, in seinem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2021. Vielmehr würden die Armen völlig leer ausgehen und für die Menschen, die „Hilfe zur Pflege” bekommen, ändere sich gar nichts - obwohl die Forderung nach einer Pflegevollversicherung von Sozialverbänden mit deren Interessen begründet wird.
Der Sozialexperte wirft die Frage auf, was falsch daran wäre, würden vermögende Menschen ihr Erspartes auch dafür einsetzen, im Bedarfsfall ihre eigene Pflege mitzufinanzieren. Sie hätten schließlich die finanzielle Möglichkeit gehabt, durch eine private Zusatzversicherung den Rückgriff auf ihr Vermögen im Pflegefall zu vermeiden. Erbenschutz, so Cremers Fazit, sei keine Aufgabe des Sozialstaats.
Vorsorge für den stationären Pflegefall - Wie lange reichen Vermögen und Einkommen deutscher Rentnerhaushalte?
Dass die Pflegeversicherung neu organisiert werden muss, steht vor allem wegen der absehbaren Belastung der jüngeren Generationen außer Frage. Politisch jedoch wird der Reformbedarf meist mit einer Überforderung der heute bereits Älteren begründet: Die aktuell Pflegebedürftigen und die pflegenahen Jahrgänge tappten in die „Armutsfalle“, heißt es da häufig.
Dabei ist es um die Finanzen der heute älteren Generation vergleichsweise gut bestellt. So hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) ermittelt, inwiefern die Rentnerhaushalte ihre Eigenanteile für längere Aufenthalte im Pflegeheim selbst bezahlen können. Die Ergebnisse:
- Gut 7 von 10 Haushalten (71,9 Prozent) im Rentenalter sind in der Lage, für eine Person 5 Jahre lang die Kosten vollstationärer Pflege aus eigener Kraft (Einkommen und Erspartes) zu finanzieren.
- Der wesentliche sozioökonomische Grund ist, dass es sich bei den heutigen Rentnerinnen und Rentnern um eine der reichsten Rentnergenerationen aller Zeiten handelt. Das Vermögen der Haushalte ist dabei so gut gestreut, dass zwei Drittel der Rentnerhaushalte die Eigenanteile im teuren Fall der stationären Pflege selbstständig tragen können, ohne auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
- Eine weitere allgemeine Leistungsausweitung in der gesetzlichen Pflegeversicherung zur Vermeidung von Sozialhilfefällen wäre offensichtlich ineffizient. Sie würde zu zwei Dritteln Haushalte erreichen, die einer solchen Solidarleistung nicht bedürfen (Gießkanneneffekt), und wäre verteilungspolitisch problematisch, da so Vermögensverhältnisse im Pflegefall zementiert und Erbmasse geschont würde – finanziert von Millionen jüngeren Erwerbstätigen mit weitaus geringeren ökonomischen Möglichkeiten.
Derselbe Gießkanneneffekt zeigt sich im bestehenden Recht bereits bei den Leistungszuschlägen zur stationären Pflege nach § 43c SGB XI (Volumen allein 2024 ca. 5,4 Mrd. Euro). Eine gezielte Unterstützung Bedürftiger im Pflegefall ist nur über die subsidiäre Sozialhilfe bzw. „Hilfe zur Pflege“ möglich, die eine Vermögensprüfung voraussetzt.
Für die allermeisten Rentnerhaushalte besteht mithin kein Armutsrisiko, stellt das IW Köln fest. Die Ökonomen schlussfolgern: Bei einer Deckelung der Eigenanteile im Pflegeheim sei die Kritik nicht von der Hand zu weisen, dies sei für einen Teil der Bevölkerung ein „Erbenschutzprogramm“.
Auch der aktuelle Alterssicherungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales attestiert der heutigen Rentnergeneration eine gute Einkommenssituation: „Insgesamt ist die heutige Rentnergeneration überwiegend gut abgesichert. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von älteren Paaren liegt bei monatlich 3.759 Euro. Bei alleinstehenden Männern sind es 2.213 Euro, alleinstehende Frauen haben mit 1.858 Euro ein im Durchschnitt geringeres Einkommen.“ Zudem wird darauf hingewiesen, dass auch eine niedrige gesetzliche Rente keinen Rückschluss auf ein geringes Gesamteinkommen zulasse und auch andere Faktoren – wie zusätzliche Altersvorsorge, zusätzliche Einkünfte oder das Einkommen des Partners – für das Gesamteinkommen des Haushalts zu berücksichtigen seien.